Dienstag, 17. Januar 2017

Buchvorstellung: Leaf to Root aus dem AT Verlag



Als Hobbygärtnerin stehe ich oft vor der schwierigen Frage, ob und wie ich das selbstgezogene Grünzeug möglichst Rübis und Stübis (für Nichtschweizer: mit Stumpf und Stiel) verwerten kann. Als erstes fallen mir immer Rezepte wie Gemüsebouillon aus Rüstabfällen, Karottenkrautpesto, Suppe aus Radieschenblättern oder Pasta mit Broccolistielen ein. Und danach? Gähnende Leere. Dabei betrauert die sparsame Hausfrau in mir jeden Fitzel, den ich widerwillig dem Kompost übergeben muss. Beispielsweise die knackigen Kohlrabischalen (leider zu "kohlig" für Brühe), die aromatischen Gurkenschalen (zu ledrig zum Mitessen), die aus Versehen zu kurz abgeknipsten Dahlienblüten oder den zuckersüssen, aber leider faserigen Strunk der sündhaft teuren demeter-Ananas. Hilfe naht in Gestalt einer Neuerscheinung aus dem AT Verlag namens Leaf to Root von Esther Kern, Pascal Haag und Sylvan Müller. Denn, ich zitiere aus dem Klappentext: Leaf to Root ist das Nose to Tail für Gemüse. Kühne Worte, deren Wahrheitsgehalt ich bereitwillig für euch überprüft habe.

Erster Eindruck:
Gross, schwer, beeindruckend. Ein Hardcover mit einem griffigen, für ein Kochbuch ungewohnt dunklen Einband. Im Innern dominiert hingegen die Farbe Weiss, unterbrochen von unzähligen, meist seitenfüllenden Fotos. Die Schriftart der Zwischentexte ist gewöhnungsbedürftig, aber lesbar.

Inhalt:
Vorwort und Einleitung werden ergänzt durch eine Diskussionsrunde, hier Roundtable genannt, bestehend aus dem Foodhistoriker Dominik Flammer, dem Ernährungssoziologen Dr. Daniel Kofahl, dem Avantgardekoch Stefan Wiesner und der Pflanzenexpertin Annafried Widmer-Kessler. Sie diskutieren auf mehreren Seiten über das Thema Leaf to Root, unter anderem auch über Ernährungstabus, geschichtliche Hintergründe, giftige Gemüseteile und vegetabile Geschmacksentdeckungen. Der praktische Teil beginnt ab Seite 22 und ist in sechs bzw. mit dem Kompendium in sieben Kapitel unterteilt. Die Rezepte sind bunt gemischt, von einfach umsetzbar bis hin zu ziemlich aufwändigen Rezeptvorschlägen von Spitzenköchen. Folgend die Kapitelübersicht und ein paar Beispiele daraus:

Blatt & Kraut: Blumenkohlblatt-Curry mit Kartoffeln / Kaffee-Walnussblatt-Granité

Stiel & Rippe: Schupfnudeln mit Federkohlrippen / Knoblauch-Petersilienstiel-Focaccia

Haut & Haar: Kokos-Bananenschalen-Pancakes / Gurkenschalen-Limonade mit Ingwer

Strunk & Herz: Ananasstrunk-Eistee / Geschmorter Rotkohlstrunk mit Orangen-Polenta

Blüte & Kern: Weisse Spargeln mit Bärlauchblüten, Mandeln und Dill / Pikante Tomatenkern-Konfitüre

Wurzel & Knolle: Frittierte Federkohlwurzeln an Sesammarinade / Kaffee aus Löwenzahnwurzeln

Kompendium: Von A wie Ananas (Schale & Strunk) bis Z wie Zwiebel (Blatt, Trieb, Blüte). 

Besonders das über 60-seitige Kompendium hat es mir angetan, denn hier findet sich zusammengefasst das ganze Basiswissen rund um Leaf to Root. Alphabetisch geordnet werden die essbaren "Abfälle" der jeweiligen Gemüse-, Obst- und Kräutersorten vorgestellt, abgerundet mit Beispielen zur Verwendung. Beinahe auf jeder Seite tummeln sich überraschende Fakten. Oder hättet ihr gewusst, dass Avocadokerne bitter, aber essbar sind? Kapuzinerkressewurzeln sind ebenfalls geniessbar, müssen aber wegen dem holzigen Mittelstrang wie Hühnerknöchelchen abgenagt werden. Unreife Johannisbeeren gehören nicht auf den Kompost, sondern in Desserts. Der deliziöseste Teil einer Artischocke ist angeblich das Mark des Stängels und nicht der vielgerühmte Boden. Randenblätter taugen roh und gekocht als Spinatersatz, und die säuerlichen Randenstiele können anstelle von Rhabarberstangen für Süssspeisen verwendet werden. Erstaunlich und erstaunlicher, gell?

Was meint der Magen:
Ausnahmsweise bestand das Versuchskaninchenteam nur aus meiner Wenigkeit und dem Schweinwoll, der die Reste verkosten durfte. Herr C. war beruflich die meiste Zeit in St. Moritz und kam, wenn überhaupt, erst kurz vor Mitternacht nach Hause. Aus diesem Grund habe ich mir Gerichte herausgesucht, die er sowieso verschmäht hätte, denn roter Chicorée, Papaya, Quitten und Rapskerne gehören definitiv nicht zu seinen Favoriten. Ich war so frei, gleich auch noch das Hauptgericht zu streichen und die Menüfolge aus Vorspeise, Dessert I und Dessert II festzulegen. Wenn schon, denn schon. 


Zuerst gab es Rotwein-Chicorée mit Papayakernen und Feta. Obwohl ich mir ab und zu eine Papaya gönne, bin ich noch nie auf die Idee gekommen, von den Kernen zu naschen. Normalerweise habe ich sie einfach ausgeschabt und entsorgt, was ich nun bereue, denn die Kerne sind kleine, leicht scharfe Geschmacksbomben. Kresse im knackigen Rundformat, sozusagen. Überschüssige Kerne trocknen, in eine Mühle füllen und wie Pfeffer verwenden. Und bevor ich es vergesse: Das Zusammenspiel aus bitterem Salat, säuerlichem Rotwein, weihnachtlichem Zimt, salzigem Feta und den schärflichen Papayakernen ist schlicht und ergreifend genial!


Später gab es gebackene Apfelscheiben mit salzigen Quittenstreuseln. Für die Streusel wird Quittensirup benötigt, der auch aus Rüstabfällen hergestellt werden kann. Zuerst habe ich die Streusel geformt und im TK parkiert, damit sie beim Backen besser die Form behalten. Unterdessen zwei grosse Renetten geschält, in Scheiben geschnitten und in eine kleine, ausgebutterte Form geschichtet. Die Früchte mit einer Mischung aus Quittensirup, Quittenbalsam und Wasser besprenkelt, dann mit den Streuseln getoppt und so lange gebacken, bis die Äpfel weich und die Streusel knusprig waren. So einfach und doch so köstlich. P.S. Die Apfelschalen werden natürlich nicht weggeworfen, sondern im Dörrer oder Ofen getrocknet und daraus Tee aufgebrüht.


Der Schokoladenkuchen mit Rapskernen und Himbeerkonfitüre landete auf dem dritten Platz, da der Genuss, bedingt durch die Himbeerkernchen, ein wenig getrübt wurde. Beim nächsten Mal würde ich auf Himbeer- oder Johannisbeergelée ausweichen und die Glasur mit Rapsöl doch noch ausprobieren.

Fazit:
Der Klappentext hat nicht zu viel versprochen. Wer nach der Lektüre dieses Buches immer noch Apfelkerne, Fenchelstiele und Wassermelonenschalen ungenutzt auf den Kompost wirft, dem ist nicht mehr zu helfen. Einige der Rezepte sind zwar nur eingeschränkt alltagstauglich (beispielsweise wegen den schwer zu beschaffenden Zutaten wie Chicorée-Wurzeln, Quittenholzspäne oder Rhabarberblüten), aber nur schon die Verwertungsideen sind grandios und das Kompendium gleicht sowieso alles aus. Das heisst: Warm einpacken, in die nächstgelegene Buchhandlung eilen und Leaf to Root kaufen. Und zwar zackig, bitteschön! 

Zum Abschluss noch das Kleingedruckte: Die in dieser Rezension geäusserten Ansichten und Meinungen sind zu 100% die Meinigen und wurden von niemandem beeinflusst.       
Einen ganz herzlichen Dank an den AT Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

2 Kommentare:

milchmaedchen hat gesagt…

Dieses Opus magnum liegt hier auch – und ich weiß vor lauter Entzücken gar nicht, an welchem Ende von "Leaf to Root" ich anfangen soll...

Anonym hat gesagt…

Ich habe es schon seit einer Woche da - dank der großartigen Hamburger Bücherhalle. :-)